10.5.19

DAS PAPIER UND DIE TINTE

Ein Blatt Papier, das zusammen mit anderen, ihm ähnlichen Blättern auf einem Schreibtisch lag, sah sich eines Tages mit Zeichen bedeckt. Eine Feder, in schwärzester Tinte gebadet, hatte es mit vielen Wörtern und Zeichen übersät.
"Konntest du mir diese Erniedrigung nicht ersparen?“, sagte das Blatt erzürnt zur Tinte.
"Du hast mich besudelt mit deiner höllischen Schwärze und für immer ruiniert.“

Leonardo da Vinci

"Warte ab", antwortete ihm die Tinte. "Ich habe dich nicht besudelt, sondern dich mit Sinnbildern versehen. Jetzt bist du kein Blatt Papier mehr, sondern eine Botschaft. Du bewahrst den Gedanken des Menschen und bist somit ein kostbares Instrument geworden."
Und in der Tat: Bald darauf machte jemand Ordnung auf dem Schreibtisch, sah die verstreuten Blätter und wollte sie ins Feuer werfen. Unversehens kam ihm das „besudelte“ Blatt in die Hand, und er schied es von den anderen und legte es zurück auf seinen Platz, weil es unübersehbar die Botschaft der menschlichen Intelligenz trug.  

(Leonardo da Vinci)





aus dem ach-so-wunderbaren Buch: Leonardo da Vinci - Der Esel auf dem Eis - Miniaturen - S. 112 - Unionsverlag - 18 €