9.12.07

Zugfahrtengeschichtenperlenschnur

Zugfahren ist wundervoll. Ich liebe es. Es ist eine Kindheitserinnerung. Leider fehlt seit Jahren die einlullende, rhythmisch-zischende Schienenmusik. Sie gehörte dazu, wie die Milch zum Kakao und war eines Tages verschwunden, einfach so. Wie vieles andere gehört auch sie der Vergangenheit an. Während sich der Wagen durch die am Fenster vorüber ziehende Landschaft schiebt, sind die Gedanken ganz nah - näher als beim Fliegen. In der Luft ist man unweigerlich damit beschäftigt sich die Angst vor dem zwar unrealistischen, aber doch immer möglichen Absturz wegzu-, denken, trinken, schwitzen, valiumieren, schlafen. Und last but not least, cool aus dem Fenster zu gucken und dem Sitznachbar zu erzählen, wie großartig es ist, das Meer unter einem und wie herrlich das Blau ... blablabla. Anstrengend. Niemand sieht die feuchten Handflächen, während man das Lächeln einschaltet und ah-so-positiv und begeistert tut. So mancher wird sich wünschen, sein oder ihr Deo möge bitte nicht versagen. „Hoffentlich hält die Wirkung der Pille, die man vor dem Flug mit einem Schluck Wasser seine Kehle runterbefördert hat, für den Langflug aus.“ Wie viele Menschen in der Maschine haben wohl diesen selben Gedanken? Während sich ihr Lächeln immer wieder an- und ausknipst?
Im Zug dagegen ist diese Angst überflüssig und Gespräche werden möglich, die normalerweise für sich behalten werden und die man einer Fremden unter anderen Umständen gar nicht erst anvertrauen würde. Doch durch die begrenzte Zeit, die man im Abteil miteinander verbringen muss, wähnt man sich in Sicherheit dem Gegenüber nie wieder zu begegnen. Hier offenbaren die Mitreisenden Geschichten, die sonst in ihrem vom Über-Ich streng bewachten Nicht-Anfassen-Tresor jahrelang unter dem Ballast des Lebens schlafen. Aber im Zug wird so manche dieser Geschichten am Zensor vorbei gelotst und - gelüftet.
Mit der steigenden Anzahl der Zugfahrten die hinter einem liegen, lassen sie sich, wie auf einer Perlenschnur, aneinanderreihen und es entsteht eine Zugfahrtengeschichtenperlenschnur, die danach schreit geschrieben zu werden.
Sie könnten in etwa so beginnen: Obwohl das Abteil in dem sie saß vollkommen leer war, kam der große blonde Mann auf Marta zu und bat sie den Platz neben ihr für ihn besetzt zu halten....