19.10.15

Wie in Italien

In der Wohnung über mir lebt eine Kleinfamilie. Sie, er und das Kind, das so gerne hüpft und freudig durch die Wohnung rennt. Zusammen sehen sie ganz hübsch in ihren bunten, selbst gestrickten Pullis aus. Vermutlich in der dritten Welt hergestellt. Wahrscheinlicher ist es, sie kaufen ihre Kleider ganz billig bei K&N, um sich danach im Schnäppchenglück zu suhlen. "Schlechtes Gewissen?" "Ah, i wooo. Wenn wir sie nicht kaufen, dann macht es eben jemand anderer.“ Sie lächeln mir freundlich zu, wenn wir uns im Treppenhaus begegnen. Sie würden mit mir bestimmt ein paar Worte wechseln wollen, doch dazu kommt es nicht.

Niemand fragt mich ob ich eventuell übernächtigt sei, weil wieder die halbe Nacht das Kind schrie und ich vier bis elf mal pro Nacht aufwachte. Ah wo, schliesslich sind wir doch eine kinderfreundliche Gesellschaft – wehe dem, der es nicht ist. Diesem Menschen wünscht man den Gulag.

Es kommen oft andere Kinder zu Besuch. Die Kleinen hüpfen aus irgendeinem Grund gerne zusammen. Immer wieder und immer wieder. NOCHMA bummert es durch die Decke - NOCHMA und alles wird begleitet durch spitzjellendes Kindergeschrei.
So und nun kommt's, obwohl die Eltern sich ganz gesund ernähren, wird vor allem sie zusehends immer runder in letzter Zeit. Bis ich begreife, dass dieses Aussehen nichts mit Stoffwechselproblemen oder dergleichen zu tun hat. Es ist ganz einfach - die Nachbarin ist wieder schwanger.

Während ich hier schreibe und der Angstschweiss dunkle Flecken unter meinen Armen färbt, wird da oben ganz ausgelassen gelebt. Mensch ist das nicht schön? Wie in Italien.
    
Im selben Augenblick als ich mir einen Tee eingießen will, reisst jemand die Tür oben auf und jede Treppenstufe wird mit beiden Beinen heruntergehüpft. Nein, es kann nicht nur im Treppenhaus sein, es passiert zeitgleich in meinem Kopf. BUMM, BUMM, BUMM. Dann läuft das spielende Kind wieder zum Treppenabsatz und - BUMM, BUMM, BUMM. Ich hoffe die tiefe Stimme eines Erwachsenen zu hören, der droht oder irgendetwas dagegen unternimmt. Vergebens.
    
Ich gehe zu meiner Eingangstür, öffne sie einen Spaltbreit und sehe einen Kinderrücken. Die kleine Hannah steht sprungbereit da. Ganz leise und ohne dass sie mich sieht, schnellen plötzlich meine Hände reflexhaft vor und geben ihr einen Schubs. Ich helfe gern. In dem Augenblick in dem ich die Tür schließe, gellt ein Schrei durch das Treppenhaus.


Ich sehe meine Teetasse auf dem Schreibtisch. Ich trinke einen Schluck aus ihr. Das tut gut.