9.11.15

Märchen für Erwachsene

Das Haus des Gerichts 

Und es war Stille im Haus des Gerichts, und der Mensch trat nackt vor Gott. Und Gott öffnete das Buch des Lebens dieses Menschen. Und Gott sprach zu dem Menschen: "Dein Leben ist übel gewesen; und Grausamkeit hast du denen erwiesen, die der Hilfe bedurften, und bitter und hartherzig warst du gegen die, denen es an Beistand mangelte. Die Armen riefen dich an, und du hörtest sie nicht, und deine Ohren waren dem Schrei meiner Betrübten verschlossen. Das Erbe der Waisen rissest du an dich, und die Füchse sandtest du in deines Nachbarn Weinberg. Den Kindern nahmst du das Brot und gabst es den Hunden zu fressen, und meine Aussätzigen, die in den Sümpfen lebten und in Frieden waren und mich lobten, jagtest du fort auf die Landstraßen, und auf meiner Erde, daraus ich dich schuf, hast du unschuldiges Blut vergossen." Und der Mensch antwortete und sprach: "Also tat ich". Und wieder öffnete Gott das Buch des Lebens dieses Menschen: "Dein Leben ist übel gewesen, und nach dem Schönen, das offenbar ist, hast du getrachtet, und des Guten, das ich verbarg, hast du nicht geachtet. Die Wände deiner Kammer waren mit Bildern bemalt, und vom Bett deiner Laster erhobst du dich zum Klang der Flöten. Sieben Altäre errichtetest du den Sünden, die ich in der Welt beließ; du aßest von dem, was nicht gegessen werden darf, und der Purpur deines Kleides war bestickt mit den drei Zeichen deiner Schande. Deine Götzen waren weder von Gold noch von Silber, die von Dauer sind, sondern vom Fleisch, das stirbt. Du färbtest ihr Haar mit Wohlgerüchen und legtest Granatäpfel in ihre Hände. Du färbtest ihre Füße mit Safran und breitetest Teppiche vor ihnen aus. Mit Antimon färbtest du ihre Lider und salbtest ihre Leiber mit Myrrhe. Bis zur Erde neigtest du dich vor ihnen, und die Throne deiner Götzen waren in der Sonne aufgestellt. Der Sonne wiesest du deine Schande und dem Mond deinen Wahnsinn." Und der Mensch antwortete: "Also tat ich". Und ein drittes Mal öffnete Gott das Buch des Lebens dieses Menschen. Und Gott sprach zu dem Menschen: "Übel ist dein Leben gewesen, und mit Übel hast du Gutes vergolten und Güte mit Untaten. Die Hände, die dich nährten, schlugst du, und den Armen, die dich bargen, gabst du Verachtung. Der mit Wasser zu dir kam, ging durstig weg, und die Geächteten, die dich zur Nachtzeit in ihren Zelten verbargen, verrietest du vor der Morgendämmerung. Deine Feinde, die dich verschonten, locktest du in den Hinterhalt, und den Freund, der mit dir ging, verkauftest du um Geld, und denen, die dir Liebe schenkten, gabst du dafür nur Lust." Und der Mensch antwortete und sprach: "Also tat ich." Und Gott schloss das Buch des Lebens dieses Menschen und sprach: "Wahrlich, ich will dich zur Hölle senden. Ja, hinab zur Hölle will ich dich senden." Und der Mensch schrie: "Das kannst du nicht!" Und Gott sprach zu dem Menschen: "Warum kann ich dich nicht zur Hölle senden und aus welchem Grunde?" "Weil ich immer in der Hölle gelebt habe", antwortete der Mensch. Und Stille war im Hause des Gerichtes. Und nach einer Weile sprach Gott sagte zu dem Menschen:" Da ich dich denn nicht zur Hölle senden kann, so will ich dich wahrlich in den Himmel senden. Ja, empor zum Himmel will ich dich senden." Und der Mensch schrie: "Das kannst du nicht." Und Gott sprach zu dem Menschen: "Warum kann ich dich nicht in den Himmel senden und aus welchem Grunde?" 
"Weil ich mir nirgends und niemals einen Himmel denken konnte", antwortete der Mensch. Und Stille war im Hause des Gerichts. 

Oscar Wilde, Sämtliche Märchen und Erzählungen